Zum 1. Advent
Wie ich mit einem Stern warm wurde
Meine Freunde sagen, ich hatte eine minimalistisch eingerichtete Wohnung - ich sehe das anders, aber ich gebe zu, dass ich keine Deko, keine Blumen und keine Kerzen brauchte. Besonders minimalistisch wirkte meine Einrichtung in der Weihnachtszeit, wenn in vielen Wohnungen Wichtel und Weihnachtsmänner, Tannenzweige und sich drehende Pyramiden einzogen. Ich beobachtete bei meinen abendlichen Spaziergängen die immer mehr werdenden geschmückten Fenster. Meine ganz eigene Studie belegte die stetige Zunahme an Sternen in den Fenstern unserer Stadt, die meisten aufwendig beleuchtet, manche mit wechselnden Farben, einige glitzernd und funkelnd. Ich fragte mich beim Fenster bestaunen immer wieder: „Was gibt es den Menschen?“ Wenn ich Freunde fragte, bekam ich Aussagen wie – so stimmen wir uns auf Weihnachten ein, Advent-Deko weckt Kindheits-Erinnerungen, beim Anblick von Sternen und Lichtern kommt eine feierliche Stimmung auf.
Einstimmung auf Weihnachten, Erinnerungen an die Kindheit, eine feierliche Stimmung, das gefiel auch mir. Danach suchte ich auch. Aber ich brauchte, sehr überzeugt, keine Deko-Sterne dazu.
Wenn ich auf andere Gedanken kommen wollte, mich auf Weihnachten einstimmen wollte, dann ging ich abends spazieren. Ich machte lange Spaziergänge durch die hell erleuchtete Stadt, bis in den Park. Hier war abends eigentlich niemand – ich genoss die Ruhe, die Dunkelheit, den Park. Und wenn ich in der richtigen Stimmung war, setze ich mich eine Weile auf eine bestimmte Bank und schaute in den Nachthimmel. Ich ließ den Blick in die unendliche Weite schweifen. Ich suchte den Himmel ab, und versuchte Sterne zu entdecken. Ich freute mich, wenn ich den Abendstern oder andere alte Bekannte entdeckte. Mein Vater hatte mir den Sternenhimmel nahegebracht. Er hatte mir erklärt, wie die Sterne heißen und mir viel über sie erzählt. Der Blick in den Sternenhimmel weckte bei mir Kindheitserinnerungen und stimmte mich wunderbar auf Weihnachten ein.
Als ich dann eines Tages auf meiner Bank saß und gedankenverloren in den Himmel schaute, wurde ich plötzlich freundlich angesprochen. „Guten Abend Herr Nachbar – mögen sie den Sternenhimmel?“ Ich schaute runter und erkannte verwundert meine junge Nachbarin aus dem zweiten Stock mit ihrem Hund. „So ist es“, antwortete ich und fragte zurück: „Und sie? Zieht der Hund sie in die winterliche Nacht oder sie ihn?“ Sie lachte und antwortete: „Wir beide mögen Sternen-Spaziergänge. Herr Bello - so heißt das Pelztier, das mich begleitet - weil er bei seinen Schnuppertouren mehr sieht, wenn Sterne den Park erleuchten, und ich, weil ich einfach absolut alle Sterne liebe.“ „Das sieht man an ihrer Fensterdekoration“, antwortete ich schmunzelnd. „Das ist vermutlich nicht ihr Ding“, lachte die „Ich-liebe-alle-Frau“ fröhlich. „Ich schätze, sie sind ein engagierter „Deko-nein-danke-Typ.“ „Ertappt!“ erwiderte ich.
Diese kleine abendliche Episode war genau genommen der Auftakt zu einer Sternstunde. Die Nachbarin war nämlich irgendwie ziemlich sehr nett - nicht nur im Licht des Nachthimmels betrachtet. Als wir uns am nächsten Tag auf der Treppe trafen, verabredeten wir uns spontan zu einem abendlichen Park-Spaziergang. Und an den folgenden Abenden spazierten der „Deko-nein-danke-Typ“ und die „Ich-liebe-alle-Sterne-Frau“ gemeinsam durch den Park. Allabendlich führten wir mit großem Eifer tiefschürfende Gespräche über den Sinn und Unsinn von Strohsternen, Glas- und Glanzsternen, Sternen-Kerzen, Sternen-Schmuck und Sternen-Kissen. Ich blieb eisern dabei, dass ich damit überhaupt nichts anfangen könnte und die Sternenfrau blieb dabei, dass ich meinen Sternfavoriten einfach noch nicht gefunden hätte.
Dann trafen wir uns – weil es furchtbar regnete – erstmals nicht im Park sondern in meiner Wohnung. Unumwunden gestand sie: „Ich hätte nie gedacht, dass es so übertrieben konsequente Deko-nein-danke-Typen gibt.“ Meine Rückfrage, ob sie das gut oder schlecht fände, beantwortete sie mit einem klaren, aber interpretationsoffenen „Ich finde es voll krass!“
Eine Woche später war Nikolaus und als ich am Morgen die Wohnung verlassen wollte, stand eine Nikolaustüte vor meiner Tür. Mein letztes Nikolaus-Geschenk lag viele Jahre zurück und dass mir jemand etwas in einer bunt bemalten Tüte geschenkt hatte, lag ebenso lange zurück. Da ich aber ahnte, wer mir die Tüte vor die Tür gestellt hatte, freute ich mich sehr. Ein bisschen aufgeregt schaute ich in die Tüte. Die Sternenfrau hatte mir ein dunkelblaues Sofakissen mit einem leuchtenden gelben Stern geschenkt. Ich schrieb ihr eine SMS: „Habe meinen Sternfavoriten gefunden! Danke!“
Dieser Sternstunde folgten bis heute viele weitere. Ich bin noch immer der „Deko-nein-danke-Typ“. Aber ich sehe das Thema Weihnachtsdekoration mit anderen Gefühlen. Und das Sternenkissen reserviert seit damals meinem Lieblingsplatz auf unserem Sofa.
Gabriele 2021